Charles Perrault

Die schönsten Märchen

Wer kennt sie nicht als liebe Begleiter der Kindheit, die Märchen
vom Aschenputtel,  vom Rotkäppchen, dem Gestiefelten Kater oder
vom Dornröschen, das hundert Jahre schlafen muss, bevor der Prinz
es erweckt?  Die Brüder Grimm oder Ludwig Bechstein waren die
Helden der frühen Jahre, die ersten Erzähler dieser  wunderbaren
Geschichten waren sie nicht. Inspiriert hatten sie sich an Charles
Perrault, der in verschiedenen Ausgaben, zum Teil auch in Versform,
das französische Publikum des 17. und 18.Jahrhunderts mit seinen
rasch zu Klassikern avancierten „Contes“ (Märchen) beschenkte. Die  
Wissenschaftlichen Buchgesellschaft Darmstadt hat neun der
schönsten  in  der Anordnung der Ausgabe von 1698  jetzt wieder in
deutscher Sprache herausgegeben, zusammen mit den  
Illustrationen von Gustave Doré, die seit ihrer ersten Ausgabe von
1861 untrennbar mit Perrault verbunden sind. Die acht Jahre später
ebenfalls mit den Doré-Illustrationen in Stuttgart in einer  Folio-
Ausgabe erschienene erste deutsche Übersetzung stammt von dem
heute vergessenen Schriftsteller Moritz Hartmann, den wir als
linken Abgeordneten im Frankfurter Paulskirchen-Parlament,
Mitstreiter von Robert Blum im Wiener Aufstand,  Teilnehmer an kennen – eine für den Kenner pikante Konstellation, denn Perrault
schrieb im Umfeld Ludwigs XIV., dem er lange als hoher
Kulturbeamter  diente und später mit der „Parallèle des Anciens et
des Modernes“  einen erbittert geführten Kulturstreit über den
Vorrang der Moderne über die griechisch- römische Antike
anzettelte.

Perrault war kein naiver Erzähler. Er hatte eine Mission. Er wollte
nichts weniger als zeigen, dass die französische Kultur seiner Zeit
der griechischen weit  überlegen sei – wo doch schon das
ungebildete Volk sich so reizvolle Geschichten wie die von Riquet
mit dem Schopf, von der  Eselshaut, dem Däumling, der Fee  oder
dem bösen Blaubart erzählte. Um sich von den als wild und
barbarisch abqualifizierten und moralisch höchst bedenklichen
Fabeln eines Aesop abzuheben, brauchte es allerdings einige
Korrekturen. Mit Perrault  hielten Verfeinerung und Zivilisation des
Grand Siècle  Einzug in eine archaische Welt, die er mit Grazie und
Erbaulichkeit anreicherte und  zum Spiegelbild einer am Vorbild des
Sonnenkönigs orientierten Gesellschaft  stilisierte.  
Märchentypische  Verhaltensweisen wie Diebstahl, Lüge,
Täuschung, Verrat, Mord und Menschenfresserei werden
abgebremst und in einem höfische Prunkstil begradigt; sie passten
einfach nicht mehr zu dem an der Vernunft orientierten
Optimismus, den der Schriftsteller seiner Zeit unterstellte. Das gibt
seinen elegant (und nicht ohne leise Ironie) formulierten Texten eine
gewisse innere Unwucht, die sich in der  geheimnisvoll verzauberten
Volkstümlichkeit der Grimm’schen Märchensammlung nicht findet. 

Gustave Doré hat das sehr gut verstanden. Er ist knapp dreißig, als
er sich daranmacht,  seine Vorgänger ein für allemal in die Schranken
zu verweisen. Zwölf Stecher setzen seine Vorlagen um, er selbst
liefert nur die Zeichnungen, in denen  die höfische Welt des
17.Jahrhunderts in Kleidung und Habitus heraufbeschworen wird  –
als Zeitkolorit zitierendes, mehr Frösteln als Schrecken
hervorrufendes  Panoptikum von gepuderte  Perücken tragenden
Karikaturen, die Perrault nicht sehr gefallen haben dürften.
Daneben bezaubern unendlich kleinteilige genrehafte Szenen.
Einfache Leute, Unholde und Riesen werden  holzschnitthaft derb
dargestellt, Mordszenen wie Historienbilder inszeniert. Der
Gestiefelte Kater darf als fein herausgeputzter Kavalier
daherstolzieren und Prinzessinen dürfen nur eines sein, nämlich
sehr sanft und sehr schön. Und immer wieder diese dichten, dunklen
Wälder, in die man ewig hineinsehen kann, weil man immer wieder
etwas Neues darin findet. Doré ist ein Meister des mit Details
überfrachteten Wimmelbildes und der raffinierten exotischen
Aufzüge, deren jeder Logik spottende Exzentrik noch einen Dali
inspirieren:  Seh-Stoff für Stunden.

Die Mischung von mit einem (aus heutiger Sicht) historisch
eigenartig  fragwürdigen Geschichtsbild überzogenen Geschichten
(Perrault) und ihrer interpretierenden Illustration  durch einen
großen Künstler des 19.Jahrhundert (Doré), dazu das flüssige, sehr
lesbare Deutsch der Hartmann’schen Übersetzung, ist wirklich
einzigartig – ein intellektuelles Vergnügen, das sich in der Urfassung
im Grunde  an kulturgeschichtlich interessierte Erwachsene wendet,
die in der Lage und willens sind, allen Finten, scheinbar
überflüssigen Nebensätzen und komplizierten psychologischen
Finessen des Autors zu folgen. Andererseits bringt  jedem, der nur
am Märchenstoff interessiert ist, auch die naive Lesart
beträchtlichen Gewinn. Alle lieben Grimm, aber Perrault war der
erste, der das Märchen in die europäische Literatur eingeführt hat.

Von Sigrid Feeser

wbg Edition, Darmstadt

Perrault, Charles
Die schönsten Märchen
Illustriert von Gustave Doré